„Der Mindestlohn schließlich ist auch nur ein Notbehelf, das Pflaster auf der Wunde sozusagen, und lässt die Ursachen der Verletzungen völlig unberührt."

Jürgen Borchert - Landessozialrichter

Familie und Beruf

Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Die sogenannte traditionelle Familienform mit der ihr zugrunde liegenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung (Mann sichert das Erwerbseinkommen, Frau ist zuständig für die Familienarbeit) entspricht heute in der Breite weder den Vorstellungen junger Menschen noch der tatsächlichen Lebensorganisation.

Die ständig steigende Frauenerwerbsquote ist Beleg dafür, dass zum einen sich das Selbstverständnis der Frauen gravierend verändert hat und zum anderen die materielle Basis tendenziell nur noch durch zwei Verdienste gesichert werden kann - da, wo beide Elternteile mit Kindern leben. Für Alleinerziehende bedeutet der Versuch, Kindererziehung und Erwerb zu koordinieren, noch eine weitaus größere Herausforderung. Die Lebensform Alleinerziehend trägt außerdem ein höheres Armutsrisiko. Aber nicht nur die Veränderung der Geschlechterrollen fordert ein neues Verständnis der Arbeitsteilung in Familie und Teilhabe am Berufsleben, sondern auch aus der Sicht des Kindes heraus ist eine Neubewertung des Verhältnisses von Familien- und Erwerbsarbeit notwendig und wünschenswert. Kinder haben einen Anspruch auf Mutter und Vater.

1. Die materielle Existenzsicherung der Familien

muss neben dem Erwerbseinkommen zusätzlich durch einen sozial gerechten Familienleistungsausgleich abgesichert werden, der auf der Grundlage der tatsächlich entstehenden Kinderkosten weiterentwickelt werden muss. Die Landesregierung ist deshalb aufgefordert, durch Bundesratsinitiativen darauf hinzuwirken, die Umsetzung der Bundesverfassungsgerichtsurteile u.a. durch eine spürbare Erhöhung des Kindergeldes umzusetzen. Die LAGF weist aktuelle Überlegungen der Regierungskoalition in Berlin als nicht verfassungskonform zurück, zum 01.01.2002 statt der gebotenen Kindergelderhöhung nur Betreuungseinrichtungen stärker zu fördern.

2. Die Entscheidung von Partnern, ihren Kinderwunsch zu realisieren

führt im Lebensalltag durch ein Bündel von Gründen (ungleiche Bezahlung, Sozialisation etc.) in der Regel zu einem Rückgriff auf tradierte geschlechtsspezifische Arbeitsteilungsmuster.

Im Interesse des Kindeswohls sind auch Maßnahmen zu ergreifen, die Einfluss auf die Vaterrolle und das Männerbild nehmen. Gesellschaftliche Institutionen, Arbeitgeber und nicht zuletzt Männer müssen lernen, dass die Wahrnehmung von Familien- (und ebenso partnerschaftlichen) Aufgaben in der Verantwortung von Frauen und Männern stehen. Das Gelingen von Partnerschaft und Familie hängt aktuell und in Zukunft immer mehr davon ab, dass geschlechtsspezifische Zuweisungen von Rollen und Aufgaben an Bedeutung verlieren. Es ist notwendig, Männer in allen gesellschaftlichen Bereichen und Positionen durch vielfältige Initiativen zu erreichen und einzubeziehen. Erziehungskonzepte, Lerninhalte in den Schulen, Weiterbildungs- und Familienbildungsangebote müssen diesen veränderten Rollenmustern und Zielorientierungen Rechnung tragen. Eine kraftvolle Öffentlichkeitskampagne, die sich an alle gesellschaftlichen Institutionen und Akteure richten muss, wird diesen Prozess begleiten müssen. Die von uns begrüßte Kampagne "Verpass nicht die Rolle Deines Lebens", die für aktive Vaterschaft wirbt, kann dabei nur ein Anfang sein.

3. Da für die Familien- und Erziehungsarbeit ein hoher Zeitaufwand notwendig ist

begrüßen wir die Neuregelung bezüglich des Rechtsanspruches auf individuelle Teilzeitarbeit bei der Erziehung von Kindern oder bei der Pflege von Angehörigen. Die neue Regelung ist jedoch nicht weitgehend genug, da Angestellte in Betrieben mit weniger als 15 Beschäftigten (z.B. weisen 73 % aller Handwerksunternehmen eine Größe von weniger als 10 Beschäftigte auf, vgl. Landtagsdrucksache 12/3121 v. 4.6.98, S.151) von dieser Regelung nicht partizipieren können. Es muss die Sicherheit gewährleistet werden, dass aufgrund dieser Tätigkeiten keine beruflichen Nachteile auf Dauer entstehen. Hier ist auch die Verantwortung der Arbeit-geber gefragt. Die Politik hat in diesem Bereich noch Handlungsspielräume, um durch Anreize und Initiativen Veränderungsdruck auszuüben bzw. Überzeugungsarbeit zu leisten, die sie bislang noch nicht ausgeschöpft hat.

4. Der überproportionalen Arbeitslosigkeit von Frauen

die oftmals durch eine familienbedingte Unterbrechung der Erwerbsarbeit hervorgerufen wurde, muss durch Programme entgegengewirkt werden, die diese auch während dieser Unterbrechung in den betrieblichen Ablauf einbindet und den Wiedereinstieg in den Beruf gewährleisten.

5. Die Befriedigung der wachsenden Nachfrage nach familienergänzenden und familienunterstützenden Angeboten für die Erziehung

Bildung und Betreuung von Kindern in allen Altersstufen ist die Voraussetzung dafür, dass eine bessere Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit realisiert werden kann. Insbesondere besteht ein erhebliches Defizit in folgenden Bereichen:

Für Kinder unter 3 Jahren ist ein institutionelles Angebotsnetz auszubauen (z.B. bedarfsgerechtes Angebot in altersgemischten Gruppen in Tageseinrichtungen für Kinder).
Eine gute Alternative zur institutionellen Betreuung (oder eine Ergänzung zu ihr), besonders für Kinder unter drei Jahren, ist die qualifizierte Tagespflege. Sie wird immer noch von der Landesregierung ignoriert, obwohl sie ein flexibles, preisgünstiges und in vielen Fällen für Kinder, Eltern und Tagesmütter ideal zugeschnittenes Angebot ist.
Die Tageseinrichtungen für Kinder müssen konzeptionell so weiterentwickelt werden, dass die unterschiedlichen Bedarfe der Kinder und Eltern flexibel umgesetzt werden können. Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen um die Bereitstellung zusätzlicher Mittel für die Tagesbetreuung vermissen wir aber konzeptionelle Überlegungen. So muss gefragt werden, welcher Bedarfslage mit welchem Angebot und in welcher Zuständigkeit entsprochen werden kann. Es drängt sich der Eindruck auf, dass es einen nicht abgestimmten Mix an Angeboten geben wird, die auf der einen Seite in die Zuständigkeit des Bildungsministeriums fallen und auf der anderen Seite die Bestimmungen des KJHG betreffen. Bei den weiteren und notwendigen Überlegungen zur Ausgestaltung der Tageseinrichtungen erwarten wir eine stärkere Beteiligung der Familienverbände. Der geführte fachpolitische Diskurs und die Beratungen zur Weiterentwicklung der Tageseinrichtungen für Kinder lassen eine gebührende Berücksichtigung der Interessen von Kindern und ihren Eltern bislang noch nicht erwarten. Der Blick muss aber stärker genau auf diese Interessengruppen - als zentrale Nutznießer dieser Angebote - gerichtet werden. Unserem Wunsch nach vergleichbarer und verlässlicher Qualität bei den Betreuungsangeboten stehen ebenfalls die immer wieder diskutierten Kommunalisierungsbestrebungen entgegen. Wir hoffen - bezogen auf diesen Kontext jedenfalls - auf ein Ende dieser Diskussion.
Den Tageseinrichtungen für Kinder sollen künftig insofern eine weitergehende Bedeutung als bisher zukommen, als sie sich zu Orten für Kinder und Eltern weiterentwickeln sollen. Auf Dauer sind die angebotenen Öffnungszeiten nicht flexibel genug, um den tatsächlichen Betreuungsbedarf der Kinder und auch der Eltern abzudecken.
Der von uns begrüßte Ausbau der Plätze in den Tageseinrichtungen für Kinder und anderen Betreuungsangeboten für Schulkinder muss einhergehen mit der Einführung eines Konzeptes der "Erziehungspartnerschaft". Dies zielt nicht nur auf die direkte Zusammenarbeit zwischen Eltern und Personal der Einrichtung bzw. Lehrer (analog der Elternarbeit), sondern stützt und fördert auch das familiale System. So kann "Erziehungspartnerschaft" einerseits Qualitätsmerkmal der institutionellen Betreuung werden, da die Erfahrung und die Kompetenz der Eltern eingebunden werden, andererseits wird das Verantwortungsgefühl der Eltern für die Erziehung ihrer Kinder gestärkt.
Nach wie vor fordern wir die Beitragsfreiheit für den Primarbereich des Bildungssystems, wie es Anfang der 80er Jahre noch erklärtes Ziel der Landesregierung war.
Es muss eine Bedarfsdeckung an Betreuungsangeboten für Kinder zwischen 6 und 14 Jahren angestrebt werden. Der Nachholbedarf beim Ausbau an Hortplätzen oder bei anderen gleich qualifizierten Nachmittagsangeboten ist eklatant. Dies hat die Landesregierung endlich auch festgestellt und erklärt, bis zum Jahr 2005 einen flächendeckenden Ausbau des Betreuungsangebotes für Schulkinder durch 200.000 zusätzliche Betreuungsplätze zu realisieren. Wir befürchten aber, dass dieser Ausbau auf Kosten der Qualität der Betreuung geht. Die geplante Bereitstellung von 50 Millionen DM für dieses ehrgeizige Ziel zeigt, dass hier offenbar Kostengesichtspunkte eindeutig Vorrang vor Qualitätsgesichtspunkten bei der Erziehung, Betreuung und Bildung unserer Kinder bekommen. Wir warnen vor pädagogischem Dumping bei dem geplanten Ausbau der Angebote. Man kann nicht einerseits ein Bündnis für Erziehung fordern vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung und andererseits Billigangebote genau für die ins Auge gefasste Zielgruppe flächendeckend schaffen. Diese falsche Weichenstellung wird sich in der Zukunft als kontraproduktiv erweisen.

6. Durch eine bessere Vernetzung der Jugendhilfe mit Schulen unter Einbeziehung der Eltern

müssen nicht nur bedarfsorientierte Angebote der Betreuung entwickelt werden, sondern diese Vernetzung ist notwendig, um die unterschiedlichen Maßnahmen aufeinander abzustimmen und die Kommunikation zwischen diesen Säulen zu verbessern. Die LAGF fordert den Ausbau eines flächendeckenden Netzes von Ganztagsschulen als freiwilliges Angebot. Dieser zeitgemäße Baustein des Schulwesens muss dem individuellen Bedarf von Kindern und ihren Familien ebenso zur Verfügung stehen wie qualifizierte Hortplätze und die unterschiedlichsten Freizeitangebote der Träger der Jugendhilfe. Die Schulbetreuungsangebote (SIT, 13 plus, Schule von 8-1) sind keine Kompensation des Unterrichtsausfalles und garantieren keine flächendeckende qualifizierte Betreuung.