„Bei Familien kumulieren und kulminieren die Verteilungsfehler des Systems, die alle Arbeitnehmer in der unteren Hälfte treffen – je schwächer, umso brutaler."

Jürgen Borchert - Landessozialrichter

Lebensräume

Öffentliche und private Räume

Familienleben braucht Raum - privaten Schutzraum, in dem es sich entfalten kann, und öffentliche Räume, in die hinein es sich öffnen kann und die die Bedürfnisse von Familien berücksichtigen. Die direkt erfahrbare Lebensumwelt setzt die Rahmenbedingungen für die Familienplanung und für das Gelingen der familiären Aufgaben, die von der Kindererziehung bis hin zur Solidarität und Hilfeleistung zwischen mehreren Generationen reichen. Ein zentrales Aufgabengebiet der Familienpolitik ist daher die Schaffung familiengerechter öffentlicher und privater Wohn- und Lebensräume.

Privaten Lebensraum schaffen bedeutet zunächst, Wohnraum zu schaffen und finanzierbar zu machen: Dort, wo Knappheit die Preise bestimmt, sind Familien aufgrund ihrer durch die Kinderkosten belasteten Einkommen die ersten, die vom Markt gedrängt werden. Ohne eine familienorientierte Wohnungsbauförderung und finanzielle Hilfen für einkommensschwache Familien (Wohngeld) lassen sich nicht einmal die Wohngrundbedürfnisse befriedigen.

Privater Lebensraum für Familien ist jedoch mehr als das sprichwörtliche Dach über dem Kopf. Die Gestaltung und die Gestaltbarkeit von Wohnraum entscheidet darüber mit, wie sich das Familienleben entwickelt und wie sich Kinder in der Familie entwickeln. Die Wohnung mit genormtem Grundriß im fünften Stock eines seelenlosen Geschoßbaus ist keine Familienwohnung, auch wenn die Quadratmeterzahl stimmt. Familiengerechtes Wohnen ist nicht nur eine Funktion der Wohnungsgröße, sondern vor allem abhängig vom Zuschnitt der Wohnung, der Spielraum für familiäres Miteinander und Rückzugsmöglichkeiten für die einzelnen Familienmitglieder bietet und sich flexibel den Bedürfnissen der jeweiligen Familie und der jeweiligen Familienphase anpassen läßt.

Flexibilität und passender Zuschnitt der privaten Räume setzen Mitgestaltung durch die Familie voraus, nicht die Planung für den anonymen Bewohner. Die eigene Gestaltung des privaten Raums ist dort am besten möglich, wo das Heim ein Familienheim ist - im besten Sinne des Wortes. Wohneigentum schafft zugleich Lebenssicherheit - nicht zuletzt als Vorsorge für das Alter. Kernstück der wohnungspolitischen Zielsetzungen des Deutschen Familienverbandes ist daher ein ausgewogenes Verhältnis von Wohneigentum zu Mietwohnraum; dies bedeutet auch die Ausgewogenheit der gesamten steuerlichen Förderung und der Sozialen Wohnungsbauförderung für Wohneigentum einerseits und Mietwohnungen andererseits. Eine Subjektförderung, die direkt bei der Familie ankommt und ihr die Kraft gibt, sich eigenständig Wohnraum zu schaffen, ist nicht nur effizienter als eine Objektförderung. Sie stärkt auch die Eigenverantwortung und entspricht damit dem Subsidiaritätsprinzip.

Der Lebensraum Familie hört nicht an der Haustür auf. Er wird mitbestimmt durch die Wohnlage, die Nachbarschaft, das Wohnviertel, die Verkehrsanbindungen - durch die Gestaltung der öffentlichen Räume, die entscheidend von einer familienorientierten Städteplanung abhängt. Die Enklave von Einfamilienhäusern auf der grünen Wiese - alle gleich und alle gleich weit weg sowohl von städtischer Infrastruktur, Gewerbe und Arbeitsplätzen als auch von dörflicher Struktur und Gemeinschaft - isoliert Familien vom öffentlichen Raum und zwingt sie zu einem ständigen "Pendelverkehr", der Zeit, Kraft und Geld kostet und damit ebenso familien- wie umweltfeindlich ist.

Familie braucht Privatheit und Privatraum - und sie braucht die Einbindung in eine gemischte Nachbarschaft, in der sich Gemeinschaft mit anderen Familien, mit alten Menschen, mit Kinderlosen leben läßt, in der sich Möglichkeiten der gegenseitigen Hilfestellung und der gegenseitigen Begegnung ergeben. Sie braucht die Integration in ein Wohnquartier, das zugleich Lebensquartier ist und in dem sich ein Gefühl von heimatlicher Verbundenheit entwickeln kann. Sie braucht eine Verkehrspolitik, die Straßen zu sicheren Lebensräumen nicht zuletzt für Kinder macht, und eine Stadtplanung, die Wohnen und Arbeiten wieder zusammenwachsen läßt.

Familienlebensraum schaffen wird damit zu einer politischen Aufgabe, die nicht nur den Bund und die Länder betrifft, sondern vor allem in den Städten und Gemeinden geleistet werden muss. Kommunalpolitische Entscheidungen betreffen die Lebensumwelt von Familien unmittelbar, sie bestimmen über die Wohn- und Arbeitsbedingungen und das Angebot an familienunterstützenden Dienstleistungen. Die organisatorischen Strukturen der Kommunalpolitik bestimmen darüber, wie stark familiäre Bedürfnisse in öffentlichen Lebensräumen berücksichtigt werden und ob sich Familien aktiv an der Gestaltung dieser Lebensbedingungen beteiligen und dadurch ein Gefühl der politischen Identifikation mit ihrer unmittelbaren Heimat entwickeln können.

Als "DFV vor Ort" versteht sich der Deutsche Familienverband daher als Interessenvertreter der Familien gegenüber der örtlichen und regionalen Politik. Bei der Einforderung einer familiengerechten Politik gilt hier übrigens ebenso wie auf Bundesebene der selbstbewußte Grundsatz:

Wer Familien stärkt, stärkt damit das Gemeinwesen und betreibt Standortpolitik im besten Sinne.

Denn nicht nur die Familie braucht öffentliche Räume, in denen Platz für ihre Bedürfnisse ist. Auch die öffentlichen Räume brauchen Familien, vor allem junge Familien, die sie mit Leben füllen. Familien sind Steuerzahler, Arbeitskräfte und Nachfrager, als Verwandtschaftsnetze entlasten sie Städte und Gemeinden von Pflege- und Versorgungsaufgaben. Eine Stadt, die Gewerbeflächen statt Wohnbauland ausweist, die es zuläßt, dass Stadthäuser nur noch für Ladenketten erschwinglich sind und aus der die Familien wegen zu hoher Boden- und Mietpreise ins Umland abwandern, verliert ihre Lebendigkeit und ihre soziale Infrastruktur. Familiengerechte Stadtplanung ist damit nicht nur Ausdruck des grundgesetzlich zugesicherten Schutzes von Familie, sondern ebensosehr ein notwendiger Bestandteil zukunftsfähiger Kommunalpolitik.