„Der Mindestlohn schließlich ist auch nur ein Notbehelf, das Pflaster auf der Wunde sozusagen, und lässt die Ursachen der Verletzungen völlig unberührt."

Jürgen Borchert - Landessozialrichter

Subsidiarität

Verfassungsauftrag und Verfassungswirklichkeit

Die grundgesetzlich zugesicherte Eigenständigkeit der Familie findet ihre Entsprechung im Prinzip der Subsidiarität als zentralem ordnungspolitischen Bauprinzip der Gesellschaft. Subsidiarität heißt Vorrang für Eigenverantwortung und Eigenleistung der kleinen Einheiten. Sie garantiert das Recht der kleinsten Einheit Familie auf autonomes, eigenverantwortliches Handeln, schützt vor Bevormundung und Entmündigung durch einen allumfassenden und allzuständigen Staat und sichert zugleich, dass Aufgaben dort übernommen werden, wo sie am effizientesten geleistet werden können. Die Aufgaben, die am sinnvollsten in der Familie und durch die Familie geleistet werden, dürfen die jeweils größeren Gemeinschaften ihnen nicht abnehmen.

Der Deutsche Familienverband richtet seine familienpolitischen Vorstellungen am Grundsatz der Subsidiarität aus. Er erkennt daher die Erstverantwortung der Familie für die Erziehung, die Betreuung und den Lebensunterhalt der Kinder und die gegenseitige, lebenslang währende Unterhaltsverpflichtung der Familienmitglieder untereinander an.

Das Prinzip Eigenverantwortung setzt aber voraus, dass Staat und Gesellschaft alles unterlassen, was die eigene Kraft der Familie schwächt, diese Aufgaben selbst zu erfüllen - ein Staat, der zum Beispiel durch verfassungswidrig erhobene Steuern erst nimmt und dann in Form familienpolitischer Leistungen zurückgewährt, verletzt das Subsidiaritätsprinzip. Bildlich ausgedrückt: Wer Bootsinsassen die Ruder wegnimmt, kann sie nicht gleichzeitig auffordern, gefälligst selbst ans Ufer zu rudern.

Die Eigenverantwortung der Familie entläßt die Gesellschaft nicht in die Verantwortungslosigkeit: Die kleinste Gemeinschaft Familie hat den Anspruch an die jeweils größeren Gemeinschaften auf Unterstützung und Hilfe zur Selbsthilfe, bevor ihr eigenes Potential zur Erfüllung ihrer Aufgaben ausgeschöpft bzw. überfordert ist.

Damit diese Unterstützung wirksame Hilfe zur Selbsthilfe ist, muß sie grundsätzlich darauf ausgerichtet sein, zunächst die Familien darin zu unterstützen, ihre Elternverantwortung selbst zu übernehmen. Erziehung und Betreuung der Kinder erfordern elterliche Präsenz, und zwar um so mehr, je jünger die Kinder sind - das gilt insbesondere, aber nicht nur für die ersten drei Lebensjahre, in denen die Geborgenheit in der Familie und die Bindung an eine verläßliche Bezugsperson für die Entwicklung des Kindes besonders bedeutsam sind. Die Unterstützung der Elternverantwortung erfordert daher vor allem den Ausbau von Instrumenten, die diese Präsenz arbeits- und sozialrechtlich sowie finanziell ermöglichen und Benachteiligungen von Eltern ausschließen, die sich für eine Betreuung des Kindes in der Familie entscheiden. Familienergänzende Erziehungshilfen und außerhäusliche Betreuungsangebote gewinnen mit zunehmendem Alter des Kindes als Unterstützung der Eltern und für die Entwicklung der Kinder zu Gemeinschaftsfähigkeit an Bedeutung. Aber auch dann dürfen sie die elterliche Erziehungsverantwortung nur ergänzen und - außer im Ausnahmefall - nicht ersetzen. Vielmehr müssen sie Eltern die inhaltliche Mitarbeit ermöglichen.

Eigenverantwortung ernst nehmen heißt darüber hinaus, das in der Familie vorhandene vorstaatliche Sicherungsnetz zu fördern. Denn Familiennetze übernehmen zentrale Aufgaben der sozialen Absicherung vorrangig vor staatlichen Sicherungssystemen und entlasten damit den Sozialstaat. So reicht die in der Familie gelebte Mehr-Generationen-Solidarität von finanziellen Hilfeleistungen bis zur Pflege von kranken, alten und behinderten Menschen, die zu 80% von Familienmitgliedern, vor allem von Frauen, geleistet wird.

Die Vergesellschaftung der Absicherung von Lebensrisiken durch kollektive Versorgungssysteme ist ein notwendiges sozialstaatliches Element. Sie birgt allerdings die Gefahr von Missbrauch durch den einzelnen, der in Versuchung gerät, seinen persönlichen Nutzen durch übersteigerte Ansprüche gegenüber einem anonymen System auf Kosten der Gesamtheit zu maximieren. Eine Rückbesinnung auf die Eigenverantwortung der kleinen Einheit Familie, die den Abbau von Benachteiligungen der Familien in den kollektiven Sicherungssystemen einschließt, ist damit nicht nur ein Gebot der Subsidiarität, sondern zugleich ein Beitrag zur Effizienzsteigerung und Reform der sozialen Sicherungssysteme.